Stuttgarter Zeitung – 24.03.2012

Die Mischung macht‘s

Gentrifizierung Berlin ist attraktiv: für Touristen, für Kreative, für gut verdienende Zuwanderer aus dem Westen. Für die, die schon immer da waren, ist es weniger schön, wenn ihr Kiez plötzlich chic wird. Sie fühlen sich bedrängt und verdrängt. Manche protestieren. Manchen würde es schon reichen, sie könnten weiterhin ihre Wohnung bezahlen.

Von Katja Bauer

Neukölln: Auf den Ort, an dem Christina Paetsch wohnt, zeigte Deutschland vor Jahren schon mit dem Finger. Das ist heute auch so, aber es geschieht aus anderen Gründen. Der britische „Guardian“ nennt die Gegend im Norden des Bezirks „das Epizentrum der Cool-ness“. Im Wochentakt verändern sich die Straßen. Aus Ein-Euro-Shops werden Designerläden. Wo Erdgeschosse leer standen, stellen jetzt Kneipenwirte Stühle in die erste Frühlingssonne. Englische Speisekarten sind Standard. Gefeiert wird bis spät in die Nacht. „Kreuzkölln“ nennen die Neuberliner diese Gegend an der Grenze zu Kreuzberg, Touristen strömen ins Viertel und fühlen sich edgy. Wer an die Spree zieht und in sein will, der sucht hier nach einer Bleibe. Ständig wird irgendwo eins der Gründerzeithäuser saniert. Aus Dachböden werden Lofts. Fast nirgends sind die Preise für Mietwohnungen im vergangenen Jahr stärker gestiegen als hier. „Wer teuer wohnen will, der zieht nach Kreuzberg“, titelte neulich eine lokale Zeitung.

Und das bedeutet auch: viele Bewohner können nicht in ihrem Viertel wohnen bleiben. „Die Sieger ziehen her und verdrängen die anderen“, so beschreibt die Fotokünstlerin Christina Paetsch das, was sie gerade erlebt. Sie lebt seit Jahrzehnten im Bezirk. An den Fenstern ihrer stattlichen Altbauwohnung am Neuköllner Weichselplatz kleben Folien – seit Monaten. Eine alte Dame, die mit im Haus wohnt, braucht jeden Abend die Hilfe der Nachbarn, um wenigstens einmal am Tag zu lüften. Hier wird gedämmt, modernisiert, saniert, verschönt. Und es wird teurer.

Dabei dachten Rabea Welte (37) und ihre Mitstreiter eigentlich, sie seien die Guten. Die Architektin gehört zu der Eigentümergemeinschaft, die das Haus gekauft hat – manche seit einigen Jahren Berliner, andere gar nicht hier wohnhaft. Fünf von neun wollen einziehen oder sind es schon. Aus Sicht der Eigentümer war der Plan, das Haus zu modernisieren, die Mieten moderat zu erhöhen – und damit das Alter abzusichern. Sie sehen sich als Gegenbild zu den Miethaifirmen. Die Bewohner aber reagierten verschreckt auf den stillschweigenden Eigentümerwechsel, die prompt folgende Modernisierungsankündigung, drohende Mieterhöhungen, den aus ihrer Sicht enttäuschenden menschlichen Umgang. Inzwischen ist die Situation verfahren: Juristen wechseln Schreiben, einer Partei wurde gekündigt, andere verließen das Haus. Beide Seiten haben ihre Sicht der Dinge auf Websites dokumentiert.

„Ich nehme es den neuen Besitzern nicht übel, dass sie hier Geld verdienen wollen“, sagt Christina Paetsch. „Nur sollen sie dann nicht so tun, als handele es sich um ein soziales Projekt.“ Andere Mieter sprechen von einer Form des Neofeudalismus: „Da kommen ein paar Gutverdiener aus dem Schwarzwald und bauen sich ein Dach aus, und das lassen sie die im Erdgeschoss mit Blick zum Hof bezahlen.“

Wer sich in anderen Häusern umhört, erlebt noch ganz andere Beispiele: Menschen, deren Miete sich nach Modernisierung und Sanierung fast verdoppelt hat -wie die einer alleinerziehenden Mutter mit Minijob. Seitdem sie sich gegen die Modernisierung sträubt, hat sie mehrere Wassereinbrüche gehabt, der Eigentümer, ein Konzern, kümmert sich nicht. Die Frau, die ihren Namen nicht nennen möchte, will kämpfen. „Ich finde doch in der Nachbarschaft nichts Bezahlbares mehr. Wenn ich nicht bleiben kann, muss mein Kind in eine andere Schule gehen.“

Ob Eigentümer ihr Tun nun als moralisch gut empfinden oder nicht, sie sind Akteure bei der Entwicklung des Viertels, die Folgen für die Bewohner haben wird. In ihrer Arbeit hat sich die Fotografin Christina Paetsch bisher mit Objekten beschäftigt. Menschen hat sie noch nie fotografiert. In einer Bilderserie hält sie jetzt das Leben ihrer Nachbarn fest. Sie ist sich sicher: die Hausgemeinschaft wird sich zwangsläufig verändern.

Was in „Kreuzkölln“ so augenfällig ist, passiert in Berlin an verschiedenen Stellen und wird unter dem Schlagwort „Gentrifizierung“ zusammengefasst. Der Begriff kommt aus dem Englischen, wo „the gentry“ den niederen Landadel bezeichnet – die Stadtsoziologin Ruth Glass beschrieb damit 1964 den Zuzug besser verdienender Familien in das Londoner Viertel Islington. Beschrieben wird der Wandel eines Stadtgebiets, der zu einer sozioökonomischen Umstrukturierung führt. Die einen nennen das Aufwertung, die anderen Verdrängung. Am Beginn steht immer die Szene. Kreative, Künstler, Studenten bevölkern ein Innenstadtgebiet mit unsanierter Altbausubstanz, weil sie bezahlbaren Arbeits- und Lebensraum suchen – aber nicht nur das: es geht auch um unordentliche Orte, die nicht zugebaut und überreguliert sind, um kreativen Freiraum, in dem jeder machen kann, was er möchte, und an dem auf diese Weise etwas Neues, Spannendes entsteht.

Wenn die kulturelle Avantgarde erst mal da ist, wird sie nach kurzer Zeit vom Mainstream bejubelt. Und das ist der Anfang von Ende ihres Daseins an dieser Stelle oder markiert ihre eigene Entwicklung in Richtung Mainstream. Menschen aus anderen Stadtteilen oder Städten entdecken das Quartier als Kulisse für ihre Freizeitaktivitäten. Investoren werden aufmerksam, kaufen sich ein und sanieren. Junge Leute, Familien, einkommensschwache Schichten können sich das Leben nicht mehr leisten und werden verdrängt. Die neuen Bewohner bringen ihr Bedürfnis nach Ordnung und Ruhe mit: Clubs müssen schließen, die Avantgarde soll käuflich zu erwerben, chic, brav und leise sein.

Den Kritikern halten viele Politiker die positiven Effekte der Aufwertung entgegen – und die sind unbestreitbar. Just der Norden des Bezirks, der jetzt so chic wird, galt noch vor wenigen Jahren als Deutschlands Problemviertel Nummer eins. Hier liegt die berühmte Rütlischule, hier spielt Detlev Bucks Gewalt- und Drogendrama „Knallhart“, hier verorteten Politiker die sogenannte Parallelgesellschaft.

In den neunziger Jahren – während in Berlins Mitte das Regierungsviertel entstand – drehte sich in den Innenstadtbezirken die Spirale weiter nach unten. Viertel drohten zu kippen. Wer konnte, zog weg. Die Verlierer blieben. Mit Millionenaufwand und verschiedenen Programmen versuchte die Politik den Prozess der sozialen Entmischung aufzuhalten. Und musste erkennen, dass die Möglichkeiten, negative Stadtentwicklungsprozesse zu steuern, begrenzt sind.

Jetzt aber steigt in den Schulen der Anteil der Kinder, die keine Sprach- und Entwicklungsprobleme haben. Das Viertel belebt sich, es entstehen Arbeitsplätze, Bewohner kümmern sich um öffentliche Belange. Nur: geht das ungebremst so weiter, wird sich das Viertel in die andere Richtung sozial entmischen. Wer arm ist, zieht weg, vermutlich in die Großsiedlungen an den Rändern. Berlin ist auf dem Weg, seine Banlieues zu entwickeln.

Die Frage heißt also: Gibt es eine Möglichkeit, die beste, weil sozial gerechte Mischung zu schützen? Berlin ist aus mehreren Gründen anders als andere Städte. Nach dem historischen Umbruch des Mauerfalls entwickelt sich die Innenstadt mit gewaltiger Geschwindigkeit. Zusätzlich verändert sich die Stadtgesellschaft: Praktisch die Hälfte der Bevölkerung hat sich binnen zwanzig Jahren ausgetauscht. Derzeit wächst Berlin, dem Senat zufolge sind es vor allem Studenten, junge Verdiener und solvente Rentner, die zuziehen. Die beiden Letzteren besetzten neu entstehende Arbeitsplätze, die Arbeitslosen aber bleiben arbeitslos. Es ist also womöglich nicht nur gefühlte Realität, wenn sie sich von „den Neuen“ verdrängt sehen. In Berlin kommt parallel eine rasende touristische Entwicklung hinzu – die Zahl der Übernachtungen hat sich, zum großen Glück für die Stadt, vervielfacht und soll auf 30 Millionen im Jahr wachsen. Dazu gehört ein spezieller Trend der Städtereise: am Wochenende fällt die Easyjet-Gemeinde ein. Für junge Reisende ist Berlin attraktiv, da libertär und billig. Hier wollen die Gäste sich so amüsieren, wie sie es teils von zu Hause nicht kennen: wild und zügellos.

Und sie brauchen Zimmer: Geschätzt 12 000 Ferienwohnungen gibt es, dazu Hostels. Wohnraum geht verloren, Gewerbemieten steigen, kleine Läden werden zu Kneipen. Die Kurzzeitnachbarn pinkeln besoffen in den Hausflur. Wohnviertel wer den ballermannisiert.

Der Ex-und-Hopp-Tourismus wird Spuren hinterlassen, auch wenn die Reisenden längst zum nächsten Hotspot weitergezogen sind. Aber der leicht zu identifizierende Tourist eignet sich lei- der auch als Sündenbock für jene linken Spießer und Biotop-bewahrer, die nichts im Sinn haben als stumpfe Kapitalismuskritik. Manche Parole auf Transparenten erinnert an fremdenfeindliche Aussagen von rechts.

In der Stadt wachsen Wut und Ratlosigkeit. Betroffene Mieter haben sich in Initiativen zusammengeschlossen – im November legten sie im Roten Rathaus ein Dossier vor. Darin heißt es, die nächsten Jahre entschieden darüber, wie Berlins Gesicht in Zukunft aussehen werde. Zentrale Forderung: Wir wollen eine Stadtpolitik, die sich ihrer sozialen und ökologischen Verantwortung stellt und ihre Bevölkerung nicht in „verwertbar“ und „Ausschuss“ aufteilt.

Es ist geradezu atemraubend, wie sehr die Politik die Entwicklung unterschätzt hat. Die Gentrifizierung ist zum drängenden Problem geworden – die Parteien wurden erst während des Wahlkampfes 2011 aufmerksam, als sie mit Fragen der Bürger überhäuft wurden. Der Satz: „Es gibt kein Recht auf Wohnen in der Innenstadt“, mit dem der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit reagierte, wirkte nicht, als sei das Problem erkannt.

Die Stadt ist in der Zwickmühle

Er ist aber Ausdruck der Zwickmühle, in der Berlin steckt: die Stadt muss auf private Investoren hoffen und die Aufwertung der Innenstadt unterstützen. Sie darf auch den Tourismus nicht hemmen – er ist der beste Wirtschaftszweig mit einem Bruttoumsatz von neun Milliarden Euro. Zum Kapital der Stadt – und das ist Wörtlich gemeint – gehört ihre Liberalität und Wildheit, ihre junge, unfertige Kreativ- und Kulturszene. Das ist das Image, von dem Berlin bis jetzt in der Wahrnehmung lebt. Die Verdrängung der Subkultur ist nicht nur bedauerlich, sondern könnte den Verlust einer Standorteigenschaft bedeuten. Die Stadt definiert ihre Attraktivität als „place to be“ (offizieller Slogan) auch wirtschaftspolitisch so. Sie konzentriert sich auf die Ansiedlung der „Creative Industries“ Mode, Musik, Film, Kunst, Medien. Hier liegt die Zukunft. Klassische Industrie wird sich an der Spree nicht mehr ansiedeln.

Sensibilisiert reagierte jüngst der Bezirk Mitte, als es darum ging, ein Stück Subkultur zu retten. Der Schokoladen, ein alternatives Kulturprojekt, stand vor der Räumung. Jetzt könnte das Projekt über einen Grundstückstausch erhalten werden. Der Bezirksbürgermeister Christian Hanke (SPD) nennt experimentelle Räume wie diese das neue Tafelsilber der Stadt. Aber kann Biotopschutz die richtige Antwort sein, um Wildheit zu bewahren? Oder bleibt am Ende ein staatlich subventionierter subkultureller Streichelzoo?

Der Verlust des Zusammenhalts droht

Und liegt nicht die größte Gefahr im drohenden Verlust eines anderen Kapitals, nämlich dem des viel zitierten „sozialen Zusammenhalts“? Berlin ist eine Stadt der kleinen Leute – das Durchschnittseinkommen ist niedrig, Kapital fehlt, mehr Menschen als irgendwo sonst leben von staatlicher Hilfe, und auch die jungen Kreativen krebsen oft am Rande des Existenzminimums herum. Jedes dritte Kind lebt unterhalb der Armutsgrenze. Man hat hier eine Vorstellung, welche Probleme es aufwirft, wenn sich soziale Trennung vollzieht, wenn sich in einzelnen Straßenzügen Arbeitslosigkeit, Bildungsferne und fehlende gesellschaftliche Teilhabe ballen. Die „Berliner Mischung“ ist keine Folklore. Es gehört zum Kapital der Stadt, dass sie sich bisher eben nicht so wie andere aufspaltet in ein Drinnen und ein Draußen. Wenn es um gefühlte soziale Ungerechtigkeit geht, dann ist die strukturelle linke Mehrheit empfindlich und zum Protest bereit.

Was also tun? Die Regierungskoalition versucht, Steuerungsmöglichkeiten zu nutzen: Mietsteigerungen sollen besser begrenzt werden, neue Wohnungen entstehen, Wohnungsgesellschaften zu moderaten Preissteigerungen verpflichtet werden. Am Neuköllner Weichselplatz wird das die Situation nicht mehr verändern. Christina Paetsch sagt, sie habe einen höchst privaten und auch höchst politischen Wunsch: „Ich möchte gerne hier wohnen. Bei einer bezahlbaren Miete.“

„RECHT AUF DIE STADT“ IM NETZ

Kommunikation Früher machten Hausbesetzer und Stadtteilinitiativen auf Flugblättern mobil. In der aktuellen Debatte über das „Recht auf die Stadt“ haben etliche Mieter- und Bewohnerinitiativen die Diskussion ins Internet verlagert. Sowohl die Bewohner als auch die neuen Eigentümer des Hauses am Berliner Weichselplatz zum Beispiel dokumentieren die Auseinandersetzung auf jeweils eigenen Websites: https://fuldaweichsel.wordpress.com/ http://weichselplatz.net/ Das mietenpolitische Dossier der Mieterinitiativen ist zu finden unter http://mietenstopp.blogsport.de/images/Mietendossier2011.pdf.

Kultur Auch der profilierte Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm schreibt einen Blog zum Thema Gentrifizierung (http://gentrification-blog.wordpress.com). Ein Beispiel für den Versuch, ein Stück Subkultur in der praktisch komplett sanierten Spandauer Vorstadt in Berlin-Mitte zu erhalten, ist das alternative Kulturprojekt Schokoladen. Auch seine Geschichte ist im Internet dokumentiert. www.schokoladen-mitte.de tja